“Der Mensch ist das Wichtigste im Verein” - der Aufstieg eines kleinen Dortmunder Vorortklubs

 

Es ist der 28. August 2017 als der Hombrucher Sportverein zum ersten Mal in Fußball-Deutschland auf sich aufmerksam macht. Die U17-Junioren des Dortmunder Vorortklubs schlagen den amtierenden deutschen Meister Bayer 04 Leverkusen mit 1:0. Mohamed Dia wird mit seinem Treffer in der dritten Minute der Nachspielzeit zum umjubelten Held. Der Aufsteiger, dessen erste Herrenmannschaft in der Landesliga spielt, triumphiert über den etablierten Bundesligaklub. Eine Sensation. Ein Sieg, der sich nicht als Eintagsfliege erweisen sollte. Aus Hombruch berichtet Markus Schulze

 

Tobias Nubbemeyer (24) trainiert die U17-Junioren des Hombrucher SV. Seine Jungs haben noch alle Chancen auf den Klassenerhalt.  Foto: Klaus-Peter Ludewig

Knapp ein halbes Jahr später hält der HSV in der Staffel West der B-Junioren-Bundesliga gut mit. Den Klassenerhalt kann die Mannschaft von Trainer Tobias Nubbemeyer aus eigener Kraft erreichen. Einem guten Start mit sensationellen zehn Punkten aus fünf Spielen folgte ein Durchhänger zur Saisonmitte. „Uns war vor der Saison klar, dass wir hinfallen werden. Es ist wichtig für die Reife einer Mannschaft wieder aufzustehen“, erklärt Nubbemeyer.

 

Das Aufstehen ist der Truppe aus dem Dortmunder Süden eindrucksvoll gelungen. Im Jahr 2017 verlor der Aufsteiger lange Zeit kein Spiel. Erst im Stadtderby gegen Borussia Dortmund Anfang April unterlag man mit 0:2. Der Klassenerhalt befindet sich in greifbarer Nähe. Mit aktuell 28 Punkten nach 22 Spieltagen liegt der Hombrucher SV auf dem neunten Tabellenplatz – der Vorsprung auf den ersten Abstiegsrang beträgt zwei Zähler.

 

Der rasante Aufstieg des HSV gleicht einem Märchen. Vor zwei Jahren stieg die Mannschaft noch in die Verbandsliga auf. Statt Abstiegskampf hieß es Durchmarsch – es gelang der direkte Aufstieg in die Bundesliga, wo die Hombrucher nun zum ersten Mal vertreten sind.

 

Das Portal „fussball.de“ schreibt von einem gallischen Dorf in der Bundesliga. Ganz abwegig ist dieser Vergleich nicht. Hombruch ist mit Köln, Leverkusen, Gelsenkirchen, Bochum oder Gladbach umsiedelt von einigen der größten deutschen Fußballmächte – nicht zu vergessen der Stadtrivale Borussia Dortmund. Doch wie schafft man es als gallisches Dorf in die höchste deutsche Spielklasse? Einer der Architekten des Erfolges ist Jürgen Grondziewski. Er gründete 1979 die Jugendabteilung in Hombruch und ist bis heute dort als Kassenwart tätig.

 

Der Mensch ist das Wichtigste“

 

In den Anfangsjahren wollte man lediglich die heimischen Kinder von der Straße abholen, erzählt Grondziewski. Mit der Zeit seien aber die richtigen Leute zum Verein gestoßen, sodass der sportliche Erfolg nicht lange auf sich warten ließ. „Wir wollten die Jugendabteilung so aufstellen, dass wir weiterhin den Breitensport bedienen können, aber auch langsam in die Spitze stoßen können“, erklärt der Kassenwart. „Wir setzten immer auf die richtigen Trainer. Bis heute haben wir in diesem Bereich sehr viel Glück gehabt.“ Zu diesen zählen unter anderem Michael Rummenigge, Christian Wörns, David Siebers, Jörg Keuntje, Holger Bellinghoff, Benjamin Seifert oder auch der aktuelle Trainer der U17-Junioren, Tobias Nubbemeyer.

 

Der Mensch ist das Wichtigste hier im Verein“, fasst dieser die Philosophie der Jugendabteilung in wenigen Worten zusammen. Es ist einer der prägendsten Sätze, der in der knappen Stunde Gesprächszeit fällt. Er macht deutlich, was diesen Verein von anderen Amateurklubs unterscheidet. „Der Verein hatte Glück durch seine Entwicklung tolle Charaktere zu bekommen. Es waren immer Menschen, die sich für den Verein begeistern konnten.“ Es entstand eine enorme Grundharmonie, die sich auch auf die Spieler in den einzelnen Mannschaften überträgt. „Ich bin vor drei Jahren nach Hombruch gekommen“, erzählt Ersan Özcan, Kapitän bei den U17-Junioren. „Kurz zuvor hatte ich eigentlich schon bei Eintracht Dortmund unterschrieben. Ich bin dann allerdings noch einmal hier zum Probetraining vorbeikommen und habe mich sofort wohlgefühlt. Mit den Mitspielern und Trainern hat alles gepasst, sodass ich mich letztendlich für Hombruch entschieden habe.“

Kapitän Ersan Özcan (m., rotes Trikot) träumt von einer Karriere im Profifußball. Mit dem Hombrucher SV kann er in den nächsten Spielen den Klassenerhalt perfekt machen. Foto: Joachim Josephs

 „Jeder Spieler schreibt seine eigene Geschichte“

 

„Ich bezeichne die Jugendabteilung immer als mein eigenes Kind“, blickt Grondziewski stolz auf sein bisheriges Werk zurück. „Wenn man überlegt, was wir bisher erreicht haben, ist das schon toll. Da können einem schon die Tränen kommen.“ Als Grondziewski die Jugendabteilung ins Leben rief, hatte er lediglich einmal acht Kinder zur Verfügung.

 

Inzwischen spielen 363 Kinder und Jugendliche für den HSV. 19 Mannschaften sind für den Spielbetrieb gemeldet. Über 40 Trainer sind angestellt. Es ist die Bilanz einer wahren Erfolgsgeschichte, die jedoch einige Herausforderungen mit sich bringt. Bedingt durch die große Anzahl an Mitgliedern werden die Trainingskapazitäten immer knapper. Eine Fusion mit einem benachbarten Verein soll zusätzliche Möglichkeiten liefern.

 

Grondziewski, der zudem als Fußball-Kreisvorsitzender in Dortmund fungiert, schmiedet bereits die nächsten Pläne für die Zukunft seines „Kindes“: „Unter bestimmten Voraussetzungen können wir auch formell ein Nachwuchsleistungszentrum werden. Das muss ein Ziel für uns sein. Wie lange wir für die Umsetzung brauchen, ist eine andere Sache. Aber sollten wir dies schaffen, wollen wir auch mit unseren Mannschaften in der höchsten Spielklasse des DFB mitmischen.“ Jedoch wolle man dabei nicht den Breitensport vernachlässigen, stellt Grondziewski noch einmal klar. „Wir wollen und werden keine Kinder wegschicken, die bei uns Fußball spielen möchten.“

 

Der bekannteste Sohn der Hombrucher Jugendabteilung ist zweifelsohne Mario Götze. Von 1998 bis 2001 ging der spätere Weltmeister seine ersten Schritte auf dem Ascheplatz, ehe er zum großen Nachbarn Borussia Dortmund wechselte. „Jeder Spieler hier schreibt seine eigene Geschichte“, macht Nubbemeyer aber dennoch deutlich, dass er wenig von der Suche nach dem nächsten Mario Götze in den eigenen Reihen hält. „Es ist natürlich klar, dass hier einige gute Jungs spielen. Ob es einer von ihnen schafft, wissen wir in zehn Jahren.“

 

 „Möchte gerne professionell in einem Nachwuchsleistungszentrum arbeiten“

 

Auch Özcan möchte später einmal in den großen Stadien dieser Welt gegen den Ball treten. „Mein großes Ziel ist es, Profi zu werden. Ich gebe in jedem Spiel und in jeder Trainingseinheit Gas, um mich weiterzuentwickeln.“ Nubbemeyer weiß bereits ebenfalls, in welche Richtung seine Laufbahn schlagen soll. Der 24-Jährige studiert Lehramt mit der Fächerkombination Deutsch und Sport. Seine berufliche Zukunft sieht er jedoch klar im Fußball. „Ich möchte gerne professionell in einem Nachwuchsleistungszentrum arbeiten. Da kann ich das, was ich aktuell nebenberuflich ausübe, hauptberuflich machen.“ Erste Erfahrungen konnte der Lehramtsstudent bereits sammeln. Im vergangenen Jahr absolvierte er bei der TSG 1899 Hoffenheim und dem FC Augsburg ein Praktikum.

 

In der laufenden Bundesliga-Saison hat sein Team noch vier Spiele zu absolvieren. Vier Spiele, in denen es gilt, die entscheidenden Punkte für den Klassenerhalt zu holen. Unter anderem warten mit Arminia Bielefeld und Viktoria Köln noch zwei Gegner, die sich ebenfalls im Abstiegskampf befinden. Es fehlt nicht mehr viel, um das nächste Kapitel im Hombrucher Märchenbuch zu komplettieren. Eigentlich fehlen nur noch ein paar Punkte.

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Ich, die Pfeife

Wir erleben es jedes Wochenende. Jeder von uns. Auf den Kreisklassen-Plätzen quer durch die Republik schimpfen wir auf den Schiedsrichter. Gewollt. Unbewusst. Weil es Spaß macht. Dem Unparteiischen macht es das auf keinen Fall. Der Spiel, Satz und Tor-Chefadministrator Sebastian Koch ist Schiedsrichter auf Kreisebene und schildert seine Eindrücke und Gefühle während eines Spiels, das ihm vollkommen entgleitet.

Ein falscher Pfiff kann den Charakter eines Spiels umdrehen.

Die Stimmen vor der Kabine wollen nicht verstummen. Schimpftiraden wie „Der Vollidiot war die reinste Zumutung“ sind die harmlosesten, die zu hören sind. In der Umkleide sitze – ich. 24 Jahre alt. Meine Prüfung habe ich vor knapp fünf Jahren gemacht und ich behaupte, dass ich ein passabler Kreisklassen-Schiedsrichter bin. Der Großteil meiner Spiele verläuft ruhig – auch wenn es selten Spiele gibt, in denen jede meiner Entscheidungen diskussionslos hingenommen wird. Das ist eine Utopie in der Kreisklasse. In jener Klasse, in der Zuschauer und Schiedsrichter oft nur eine hüfthohe Stange trennt. Heute war nicht mein Tag. Es war ein Spiel, das gezeigt hat, dass „das Pfeifen“ auch mal keinen Spaß macht. Das Handtuch über den Kopf sitze ich in meiner Umkleide, möchte im Erdboden versinken. Knapp zweieinhalb Stunde vorher: Gerade am Sportplatz angekommen, werde ich vom Heimtrainer freundlich mit Handschlag begrüßt. Auf dem Weg in meine Kabine führen wir ein bisschen Smalltalk. Wo ich herkomme, möchte er wissen. „Zwei Dörfer weiter“, antworte ich und füge an, dass ich kürzlich die erste Herrenmannschaft des Vereins gepfiffen habe. Ein substanzloses Gespräch, doch ich möchte zum Heimtrainer ein gutes Verhältnis haben. Er kann sich später als wichtig erweisen, in heiklen Situation die Wogen ein wenig glätten und beruhigend auf seine Spieler einwirken. Gleichzeitig möchte der Heimtrainer Sympathiepunkte sammeln. Das kann nicht schaden, wird er sich denken. Obwohl ich neutral bin. Ich führe das Gespräch auch, weil ich der Meinung bin, dass sich Sportler mit Respekt begegnen sollten – eine idealistische Vorstellung.

Nach den letzten Vorbereitungen – habe ich gelbe und rote Karte? Die Pfeife? Funktionieren meine beiden Kugelschreiber? – laufe ich auf den Platz. Die Heimmannschaft steht bereits da, der Gegner braucht noch. Zur Lockerung der Atmosphäre führe ich mit dem Spielführer noch ein Gespräch. Die Stimmung ist gut.Mit einem klaren lauten Pfiff eröffne ich das Spiel. In meiner Ausbildung habe ich gelernt, dass der Anpfiff ein Signal geben kann, welche Autorität der Schiedsrichter ausstrahlt. „Der erste Pfiff ist schon entscheidend“, pflegte mein Ausbilder zu sagen. Zweikämpfe gibt es in den ersten Minuten kaum, dafür den einen oder anderen Fehlpass. Zwei Mal entscheide ich nach einem Pressschlag, wer Einwurf hat. Beide Male werden die Entscheidungen ohne Diskussion hingenommen. Gut so, denke ich mir. Doch das Tückische am Schiedsrichterwesen ist, dass man jederzeit hellwach sein muss. Ein Schiedsrichter kann ein Spiel 85 Minuten souverän und gut leiten. Trifft er dann eine umstrittene Entscheidung, fühlen sich die letzten fünf Minuten doppelt so lange an wie die 85 Minuten davor. Heute treffe ich eine solche Entscheidung schon nach elf Minuten. Ich gebe für die Gäste-Mannschaft einen Freistoß in aussichtsreicher Position. Diskussionen. Hektik. Aufregung. Geschrei. Ich schlichte. Ermahne. Verzichte darauf, gelbe Karten zu verteilen. Da das Spiel noch lange geht, möchte ich nicht schon zu früh die Grenzen zu eng setzen. Zeige ich jetzt Gelb, werde ich daran in den noch ausstehenden 80 Minuten gemessen.


Zur Person:
Ich bin 24 Jahre alt und habe meine Schiedsrichterprüfung im Herbst 2011 abgelegt. Seitdem habe ich knapp 130 Spiele auf Kreisebene im Jugend- und Seniorenbereich geleitet.


Der Beginn eines Albtraums

 

Später werde ich diese Entscheidung bereuen. Ich bin überzeugt, dass die Foul-Entscheidung richtig gewesen ist, stelle die Mauer. Der Freistoß landet im Torwinkel. Ein Traumtor für den Schützen. Der Beginn eines Albtraums für mich? Noch immer haben sich die Gemüter nicht beruhigt. Besonders von draußen wird auf mich eingebrüllt. Ich fühle mich nach elf Minuten in meinem gelben Schiedsrichtertrikot nicht mehr wohl. Das Spiel wird schon jetzt, zu einem so frühen Zeitpunkt, ruppig, weil sich die Stimmung von draußen auf dem Feld widerspiegelt. Die Gästemannschaft ist überlegen, die Führung geht in Ordnung. Damit versuche ich mich selbst zu beruhigen. Jeden Zweikampf bewerten. Schnell entscheiden. Die Vorteilsregel selten anwenden, um wegen vermeintlich nicht gepfiffener Fouls Aufregung zu vermeiden. Die Heimmannschaft schlägt einen langen Ball, der beim Stürmer ankommt. Ich will pfeifen, als im selben Moment ein Abwehrspieler „Abseits“ brüllt. Einen Wimpernschlag später erklingt mein Pfiff. Ich wollte pfeifen, bevor das A-Wort ausgesprochen wurde, habe es aber nicht geschafft. Schließlich musste ich meine Pfeife erstmal zum Mund führen. Der Verteidiger war ohne Pfeife schneller. Das Gegrummel nimmt zu. Erst recht, als ich wenig später abermals auf Abseits entscheide. Wieder gegen die Heimmannschaft. Wieder hatte ein Abwehrspieler unmittelbar vor meinem Pfiff gerufen. Wieder war es eine knappe Entscheidung. „Sie müssen nicht auf Zuruf pfeifen!“, brüllt mir jener Trainer aggressiv zu, mit dem ich mich vor Anpfiff noch unterhalten habe. Auf Zuruf pfeifen – der schlimmste Vorwurf, den man einem Schiedsrichter machen kann, weil er seine Autorität und Neutralität in Frage stellt. Von jetzt an wird jeder Zweikampf lautstark bewertet, insbesondere von der Heimmannschaft. Ich versuche, die Zweikämpfe fernab jedes Kommentars zu bewerten. Das gelingt nicht immer. Ab und zu pfeife ich in dieser Phase aus Reflex und frage mich gleich danach, ob das richtig war. Doch ich muss zu meinen Entscheidungen stehen.



Warum kann ich nicht ausgewechselt werden?

 

Es sind erst 25 Minuten gespielt, mir kommt es wie eine Ewigkeit vor. Wieder pfeife ich einen Freistoß in Tornähe, diesmal für die Heimmannschaft. Wieder Hektik. Gebrüll. Diskussionen. Auch dieser Freistoß ist drin. 1:1. Zwei Freistöße, die heftig diskutiert worden sind, haben zu Toren geführt. Waren das die richtigen Entscheidungen? Sind solch heftige Diskussionen noch normal? Ich sehne mich nach der Halbzeitpause. Im Strafraum hindert ein Verteidiger der Heimmannschaft einen Stürmer mit einer Grätsche am Torschuss. Riskant. Temporeich. Fair? Laut schreie ich „Ball. Ball. Ball. Weiterspielen!“ Zur Unterstützung zeige ich auf das Runde, doch das nützt nicht wirklich etwas. Die Gästespieler stürmen auf mich zu, brüllen mich an. Ich lasse es über mich ergehen. Was bleibt mir anderes übrig? Bis zum erlösenden Halbzeitpfiff geschieht nichts mehr. Auf dem Weg zur Umkleide werde ich belagert. Muss meine Entscheidung, keinen Elfmeter zu geben, erklären. Die Gästespieler schlagen theatralisch die Hände über den Kopf zusammen. Spieler der Heimmannschaft verteidigen meine Entscheidung. Heuchelei, denke ich. Endlich in der Kabine. Tür zu. Wasser trinken. War das doch ein Elfmeter? War meine Entscheidung, nicht zu pfeifen, die richtige? Was war bei den Freistößen los? Ich weiß es nicht, werde es auch nie erfahren. So beschließe ich, die erste Halbzeit abzuhaken, und ahne doch, dass die zweite noch schwerer wird. Kurz nach Wiederanpfiff pfeife ich wieder Abseits. Wieder gegen die Heimmannschaft. Wieder hatte ein Abwehrspieler schneller gerufen, als ich überhaupt pfeifen konnte. Wieder der Vorwurf, ich agiere auf Zuruf.

 

Hört auf, ständig zu rufen, wünsche ich mir. Fast ein wenig naiv. Gerufen wird immer. Aus Reflex. Als taktisches Mittel. Aus Verzweiflung heraus. Für mich tragisch, weil ich dadurch wieder meiner Souveränität und Entscheidungsgewalt beraubt werde. Nach einer knappen Stunde verteile ich die erste gelbe Karte. Ich weiß, dass die zu spät kommt. Wäre das Spiel ruhiger verlaufen, wenn ich schon am Anfang ein Ausrufezeichen gesetzt hätte? Vielleicht. Ich mache heute eben Fehler – genau wie ein Mittelfeldspieler der Gästemannschaft. Der wird ausgewechselt. Ich wünschte in diesem Moment, ich könnte auch ausgewechselt werden.

 

Die Angst spielt mit

 

Bei jeder Entscheidung fühle ich mich unwohler. Mittlerweile gibt es fast nur noch schwierige Zweikämpfe zu bewerten, weil sie intensiv, aber doch – zumindest auf den ersten Blick – fair geführt werden. Dennoch pfeife ich das eine oder andere Duell ab. Zu viele? Ich möchte die Zweikämpfe auf ein normales Niveau zurückfahren, die Grenzen enger ziehen. Nicht jeder Zweikampf, bei dem zuerst der Ball gespielt wird, ist fair. Wird die Gesundheit des Gegners gefährdet, ist es ein Foul. Das ist Auslegungssache und für Spieler oft schwer zu akzeptieren. Gerade in einer solch aufgeheizten Atmosphäre. Es wird fast nur noch diskutiert. Das Spiel entgleitet mir langsam völlig. Mit gelben Karten versuche ich, Ruhe reinzubringen, doch bewirke damit nicht immer das Gewollte.

20 Minuten vor Spielende pfeife ich einen Strafstoß für die Heimmannschaft. Im Fernsehen würde man nach der vierten Zeitlupe vermutlich von einer „Kann-Entscheidung“ sprechen. Einen Elfmeter, den man geben kann, aber wohl nicht geben muss. Die Gemüter der Gäste – vor allem das des Trainers – sind erhitzt. Sie erinnern mich an die Szene vor der Pause und lassen mich sogar spüren, was ich vom Fußball bisher in der Form noch nicht gekannt habe: Bammel, vielleicht sogar Angst. Wie oft habe ich in den vergangenen Monaten und Jahren gehört und gelesen, dass Schiedsrichter verprügelt worden sind? Was droht hier nach dem Spiel? Eskaliert die Situation völlig? Muss ich wirklich Angst haben? Ich male mir verschiedene Szenarien aus – und bin mit meinen Gedanken nicht mehr ausschließlich auf dem Platz. Verliere den Überblick. Weiß nicht mehr, wer gefoult hat. Die gelbe Karte kann ich deshalb nicht zeigen.


 

"So verrinnt die Zeit und bleibt doch stehen. Dabei möchte ich abpfeifen. Runter vom Platz. Einfach weg."

 


Jeder kann es besser

 

Wie ein Fels bleibe ich auf Höhe des Elfmeterpunktes stehen. Breitbeinig. Entschlossen. Dennoch wird immer noch diskutiert. Ich sage kein Wort, möchte signalisieren, dass ich nicht diskutiere. Wieder verteidigen die Spieler der Heimmannschaft meine Entscheidung. Wieder denke ich an Heuchelei, bin aber dankbar für die Unterstützung, da mir selbst Zweifel kommen. Der Torwart pariert den Elfmeter, ich bin irgendwie froh darüber. Doch die Stimmung ist noch aufgeladener. Meine Gedanken? Schwanken zwischen dem Spiel mit den vielen, intensiven Zweikämpfen, dem Bammel vor dem, was kommt, und dem Trotz, dem Willen, das Spiel anständig zu beenden. Zuschauer brüllen auf mich ein. Beleidigen mich. Mit Worten, die man hier nicht lesen möchte. Ich versuche, sie zu überhören.

Nach wie vor steht es unentschieden, doch beide Mannschaften spielen so hektisch, als seien sie im Rückstand. Ein wahres Fehlpass-Festival. Ein Kreisklassenspiel wie aus dem Bilderbuch. Das Pikante: An den Schiedsrichter wird auch in der Kreisklasse von Spielern und Trainern der Maßstab angelegt wie der an einen Unparteiischen in der Champions League. Fehler sind verboten. Jede Entscheidung wird kommentiert. Jeder da draußen weiß es besser. Und jeder kann es natürlich besser. Das Pfeifen eines Spiels zweier Herrenmannschaften. Auf Großfeld. Ohne Assistenten. Dann geht die Heimmannschaft in Führung. Ein Schuss aus 25 Metern in den Winkel. Ich bin froh, dass es bei diesem Tor nichts zu diskutieren gibt.

 

Kurz vor Schluss prallen der Heimtorwart und ein Offensiver zusammen. Der Schlussmann bleibt liegen. Ich muss das Spiel unterbrechen, entscheide auf Freistoß. Der Gästetrainer schimpft sich in Rage. Spieler umringen mich, obwohl der Ball von der Abwehr geklärt wurde. „Jetzt wird es lächerlich“, kommentiert der Stürmer. Der Torwart liegt immer noch. Verletzung? Zeitspiel? Das weiß ich nicht, sehr wohl aber, dass ich nachspielen lassen muss. So verrinnt die Zeit und bleibt doch stehen. Dabei möchte ich abpfeifen. Runter vom Platz. Einfach weg. Nach ewig langen zweieinhalb Minuten geht es weiter. Die Gästemannschaft wirft alles nach vorn – und vergisst das Verteidigen. Ein Konter. Ein langer Ball. Ein Pfiff. Abseits. Der Stürmer brüllt mich an, er habe in der eigenen Hälfte gestanden – dann wäre die Abseitsregel außer Kraft gesetzt. Er stand aber jenseits der Mittellinie. Das habe ich dieses Mal genau gesehen. Doch mein Standing auf dem Platz verleiht mir nicht unbedingt Autorität. Nicht heute. Nicht in diesem Spiel. Fünf Minuten lasse ich nachspielen. Angemessen, bei all den Unterbrechungen und Diskussionen. Fünf Minuten. 300 Sekunden. Was kann da alles passieren? Die Flankenbälle fliegen im Sekundentakt in den Strafraum, der Ausgleich ist überfällig. Alles schreit. Zuschauer. Trainer. Spieler. Ein Foul der Heimmannschaft direkt vor dem Gästetrainer lässt die Emotionen überkochen. Gelb zeige ich. Viele fordern Rot. Am lautesten der Gästetrainer. Er stürmt aufs Feld und sagt mir, was er von meiner heutigen Leistung hält. Ich weise ihn an, das Feld zu verlassen, und weiß doch, dass er mit seiner Kritik nicht falsch liegt. In der vierten Minute der Nachspielzeit fällt das 3:1. Ich pfeife das Spiel gar nicht mehr an, bin froh, dass es vorbei ist.

 

Das schönste Kompliment

 

Ein Gästespieler gibt mir die Hand. Nachdem ich ihm sage, dass ich schon bessere Tage gehabt habe, erwidert er: „Das stimmt hoffentlich. Aber das passiert.“ Der Gästetrainer lässt sich nicht mehr blicken. Handschlag wie im Fernsehen? Fehlanzeige! Der Weg zur Kabine, vorbei an den Zuschauern, wird zum Spießroutenlauf. Ich rede mir ein, dass ich immer gewusst habe, dass auch solche Situationen auf mich zukommen werden und auch ich einmal einen schlechten Tag habe. Das passiert jedem Torwart. Jedem Verteidiger. Jedem Stürmer. Einem Schiedsrichter wird das nicht verziehen.

 

Zwei Tage später pfeife ich wieder. Ohne Probleme bringe ich das Spiel über die Zeit. Am Ende kommt der Trainer der knapp unterlegenen Mannschaft auf mich zu. „An Ihnen hat es heute nicht gelegen.“ Es ist das schönste Kompliment, das man einem Schiedsrichter machen kann.


Anmerkungen der Redaktion:

  • Der Text erschien vorab in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
  • Sebastian Kochs Text wurde für die Top10 des Nachwuchswettbewerbs der Deutschen Presse-Agentur nominiert (dpa-News-Talent).
  • Sebastian Kochs Text ist für den Nachwuchspreis des Verbandes deutscher Sportjournalisten nominiert.
  • Der Spielort sowie die Mannschaften sind bewusst nicht namentlich genannt.

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